Es war einmal ein weiser König, der seinem Volk eine wichtige Lektion im Leben geben wollte.
Er ließ einen Elefanten auf dem Marktplatz bringen.
Unter der Aufsicht seines Volkes bat er fünf Blinde zu beschreiben was ein Elefant ist.
Die Blinden wurden auf fünf verschiedenen Seiten des Elefanten aufgestellt.
Der erste sagte: Ein Elefant ist eine Art Schlange.
Ein anderer behauptete: Es ist eine Art großer Fächer.
Der dritte sagte: Nein, es ist eine Art Baum.
Der vierte sagte: Wie kommst du darauf, es ist wie ein riesiger Ballon.
Der fünfte Blinde behauptete: Ich denke, ein Elefant ist eine Art schlapper Pinsel.
Die Leute auf dem Platz hatten viel Spass mit dieser Show
und sie lachten wegen der lustigen Aussagen der Blinden.
Der König aber bleib ernst und sagte:
"So wie diese Blinden ein verzerrtes und fragmentarisches Bild des Elefanten haben,
so haben Menschen, die sich im gemeinen Wachzustand
befinden,
ein verzerrtes und fragmentarisches
Bild der Wirklichkeit".
Die Menschheit hat viele Ebenen der Wirklichkeit erforscht und beschrieben. An Informationen zu den unzähligen Aspekten der Wirklichkeit gibt es keinen Mangel. Diese Wissensfülle spiegelt sich in den vielen Wissenszweigen, welche sich in der Wissenschaft entwickelt haben. Jeder Wissenschaftszweig hat eine eigene Fachsprache entwickelt, mit dem Ergebnis, dass Vertreter unterschiedlicher Fachrichtungen sich unter einander nicht mehr verstehen können. In Bezug auf das akademische Wissen können wir mit Sicherheit feststellen, dass die Universitäten ihren "Uni" -Teil verloren haben und dass nur noch die "Versität" übrig geblieben ist.
Die Universitätsgemeinschaft ist innerlich verzettelt, und ähnliches gilt für die vielen Religionen. Sogar die Religionen sind sich nicht einig darüber, was die Essenz der Wirklichkeit ist, was Gott ist, was Bewusstsein ist, was die Seele ist, was das Leben als solches ist. Deshalb sind die Religionen seit Jahrhunderten miteinander in Uneinigkeiten verstrickt, so wie die Blinden sich über die wahre Natur des Elefanten uneinig sind.
Offensichtlich fehlt dem menschlichen Wissen eine umfassende Perspektive. Der Menschheit fehlt ein umfassender Bezugsrahmen, in dem alle Wissenschaften, Künste, Philosophien und Religionen ihren natürlichen Platz einnehmen können.
Ist es überhaupt denkbar, dass die Menschheit zu einer ganzheitlichen Perspektive gelangen kann? Absolut!
Die gute Nachricht von heute ist, dass die moderne Physik so tief in die Materie eingedrungen ist, dass erkannt wurde, dass Bewusstsein eine fundamentale Rolle in der Struktur und Dynamik des Universums spielt. Denke dabei zum Beispiel an die bemerkenswerte Aussage des Begründers der Quantenmechanik, Max Planck. Schon 1929 schrieb er: "Materie ist definitiv nicht aufgebaut aus Materie. Ich betrachte Bewusstsein als fundamental. Ich betrachte Materie als ein Derivat von Bewusstsein." Die moderne Physik spricht heutzutage vom Nullpunktfeld oder vom Vakuumfeld. Forscher auf diesem Gebiet betrachten dieses abstrakte Gebiet als die Essenz und Quelle des manifesten, materiellen Universums. Damit ist die Physik auf die Ebene des Seins angelangt. Die Ebene der reinen Existenz. Dabei wird betont, dass das Nullpunktfeld selbst-interaktiv ist. Als Quelle des manifesten Universums ist es von Natur aus kreativ und intelligent.
Dies ist genau die Einsicht, die auch in den Upanishaden (Textbücher der uralten vedischen Tradition in Indien) zum Ausdruck gebracht wird. Die Upanishaden betonen, dass Kreativität und Intelligenz in der Natur des Seins eingebettet sind. Ihr Hauptthema ist: Das Sein ist sich bewusst von sich Selbst; Sein ist Bewusstsein. Die Upanishaden argumentieren seit Tausenden von Jahren, dass Bewusstsein die Essenz von allem und jedem ist. Das Nullpunktfeld ist ein Feld von selbst-interaktiven Sein, das Feld von Bewusstsein. So können wir verstehen, dass alle Sorten Energie und alle Formen von Materie die verschiedenen Manifestationen des ein und desselben universalen Feld von Bewusstsein sind.
Alles was besteht kann verstanden werden, und soll verstanden werden als ein Ausdruck oder eine Manifestation des Seins, des universalen bewussten Seins! Wir Menschen sind dabei ziemlich bemerkenswerte Manifestationen des bewussten Seins, in dem Sinne, dass wir uns unserer eigenen Essenz, unseres eigenen Bewusstseins bewusst werden können. Und da es nur ein universelles Bewusstsein gibt, ist die letztendliche Quelle meiner Gedanken identisch mit der Quelle deiner Gedanken. Tief in uns selbst finden wir also die Einheit, welche die Quelle und Essenz der unendlichen Vielfalt ist. So können wir verstehen, dass Bewusstsein die Quelle aller Energie und damit auch die Quelle aller Materie im Universum ist. Man könnte sagen, dass Bewusstsein drei "Aggregatzustände" hat: 1. Bewusstsein als solches: das abstrakte, absolute, kreative und intelligente Nullpunktfeld. 2. Bewusstsein in Bewegung: alle Arten von Energie im Universum. 3. Bewusstsein, das eine Form angenommen hat: alle Arten von Materie im Universum.
Bewusstsein ist also im Wesen alles, und alles ist im Wesen Bewusstsein! Im Lichte des Bewusstseins haben wir einen Gesamtüberblick über die ganze Wirklichkeit! Das Wissen über die Wirklichkeit ist strukturiert in Bewusstsein. Die Wirklichkeit als Ganzes ist ebenso strukturiert in Bewusstsein. Bewusstsein ist also das lang gesuchte Element, das die gemeinsame Essenz aller Wissenschaften, aller Religionen, aller Künste und aller Philosophien ist.
Dieses auf Bewusstsein basierte Paradigma der Wirklichkeit bietet den lang ersehnten universellen Bezugsrahmen für alle Bereiche des menschlichen Wissens. Die Entdeckung des Bewusstsein-Paradigma für alle Bereiche des menschlichen Wissens kann als "zweite kopernikanische Revolution" betrachtet werden. Durch die erste kopernikanische Revolution haben wir gelernt, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt. Dies hat uns ein viel realistischeres Bild der Wirklichkeit gegeben. Noch wichtiger als diese physische Einsicht ist jedoch die psychisch-spirituelle Einsicht, dass Bewusstsein nicht das Produkt von Materie ist, sondern dass Materie das Produkt von Bewusstsein ist!
Das Bewusstsein-Paradigma macht klar, dass Bewusstsein nicht nur die Essenz von uns Menschen ist, sondern von allem und jedem. So wie sich im Äusseren alles um die Sonne dreht, so dreht sich im Inneren alles um Bewusstsein. Alles im Universum dreht sich um Bewusstsein und um das Bewusstwerden der allumfassenden Natur des Bewusstseins.
Auf persönlicher Ebene werden wir uns immer abstrakterer Ebenen geistiger Aktivität bewusst, indem wir täglich einige Zeit an Stille-Übungen widmen. Auf diese Weise kommen wir dem Bereich des reinen Bewusstseins immer näher. Wenn wir auf diese Weise die Quelle unserer Gedanken kennenlernen, werden wir von einer Erfahrung von Grenzenlosigkeit, Glück und Freiheit durchdrungen. Dies sind die Eigenschaften unseres wahren Selbst.
Im Bewusstsein-Paradigma bekommt alles was der Mensch jemals verstanden hat – und verstehen wird – seinen natürlichen und angemessenen Platz. Dank dem Bewusstsein-Paradigma der Wirklichkeit kann die Menschheit endlich "den ganzen Elefanten" erkennen. So wird der Mensch eine universale Ebene des Bewusstseins kennenlernen, das dem Menschen würdig ist. Dann wird die Einsicht, die in den letzten drei Versen des Rig Veda (dem ältesten Textbuch der Welt) zum Ausdruck kommt, zu einer selbstverständlichen, allgemein anerkannten Wahrheit:
"Geh zusammen, sprich zusammen.
Weiss, dass euer Geist aus einer gemeinsamen Quelle funktioniert.
Weiss, dass alle Impulse der kreativen Intelligenz – auf mentaler und materieller Ebene –
in perfekter Harmonie ganzheitlich funktionieren.
Weiss, dass die unendliche Vielfalt des Universums eingebettet ist
in eine absolute und allumfassende Einheit."
(Rig Veda, 10. Mandala, Sukta 191, Verse 2-4.)
© Drs. Frans Langenkamp, Kulturanthropologe, vedischer Astrologe, Yoga und Vedanta-Experte.